Allgemeine Grundsätze
Vorrang des Unionsrechts
Das Unionsrecht hat Vorrang vor dem Recht der Mitgliedstaaten und verpflichtet alle Organe der Mitgliedstaaten, den verschiedenen Bestimmungen des Unionsrechts volle Wirksamkeit zu verleihen. Die nationalen Gerichte sind daher verpflichtet, ihr nationales Recht so weit wie möglich in Übereinstimmung mit den Anforderungen des Unionsrechts auszulegen. Dies kann gegebenenfalls sogar zu einer Abänderung einer gefestigten Rechtsprechung führen, wenn diese auf einer Auslegung des innerstaatlichen Rechts beruht, die mit den Zielen einer Richtlinie nicht vereinbar ist (Rechtssache C-441/14 DI, Randnr. 33).
Wenn es eine nationale Regelung nicht den Anforderungen des Unionsrechts entsprechend auslegen kann, kann ein nationales Gericht verpflichtet sein, jede nationale Bestimmung, die der umfassenden Anwendung des Unionsrechts entgegensteht, unangewandt zu lassen, selbst jede einer Bestimmung des Unionsrechts entgegenstehende Bestimmung des nationalen Rechts mit unmittelbarer Wirkung (Rechtssache C-573/17 Poplawski, Randnrn. 58, 61). Es ist nicht erforderlich, dass die Parteien vor den innerstaatlichen Gerichten im Einzelnen ausdrücklich vortragen, welche Normen des innerstaatlichen Rechts diese Gerichte konform auslegen oder unangewandt lassen sollen. Die Identifikation dieser Normen und die Entwicklung der Vorgehensweise, um einen etwaigen Widerspruch zwischen dem innerstaatlichen Recht und dem Unionsrecht zu beseitigen, ist vielmehr Teil der Verpflichtung der innerstaatlichen Gerichte, das in der Richtlinie vorgesehene Ziel zu erreichen (Schlussanträge in Rechtssache C-254/19 Friends of the Irish Environment, Randnr. 67, 69). Auf diese Weise hat es der Grundsatz des Vorrangs des Unionsrechts ermöglicht, in Verfahren auf der Grundlage des Unionsrechts zahlreiche, sich aus dem nationalen Recht ergebende verfahrensrechtliche Hindernisse zu überwinden. In manchen Fällen hat er dazu geführt, dass das nationale Gericht in im nationalen Recht nicht vorgesehenen Situationen Verfahrensregeln angewandt und Maßnahmen ergriffen hat (Rechtssache C-415/11 Aziz, Randnr. 64).
Es gibt jedoch Ausnahmen von der Verpflichtung, die kollidierenden Maßnahmen nicht anzuwenden, wenn eine zwingende Erwägung vorliegt: die Gefahr, dass die Nichtigerklärung der Maßnahme zur Folge hätte, dass ein rechtliches Vakuum geschaffen würde, das mit der Verpflichtung dieses Mitgliedstaats, Maßnahmen zur Umsetzung eines anderen EU-Rechtsakts zum Schutz der Umwelt (Rechtssache C-41/11 Inter-Environnement Wallonie und Terre wallonne) oder eines anderen allgemeinen Interesses zu ergreifen, unvereinbar ist. Auf jeden Fall dürfen die Wirkungen dieser Rechtsakte nur während des Zeitraums aufrechterhalten werden, der absolut notwendig ist, um dieser Rechtswidrigkeit abzuhelfen (Rechtssache C-24/19 A u. a. () und Nevele).